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Es war die Armut des ländlichen Raumes, die die Männer hier veranlaßte ins 60 Kilometer entfernte Holland zu wandern und dort als Grasmäher, Torfstecher und Handwerker in den Sommermonaten Geld zu verdienen. Die übrigen Familienmitglieder, besonders die Frauen, besorgten in dieser Zeit, die heimische Landwirtschaft, aber auch Haushalt, Kindererziehung und Leinenherstellung. Dieses Leinen wurde für den Eigenbedarf schon über Jahrhunderte auf den Bauernhöfen aus Flachs und Hanf hergestellt. Die Hollandgänger nahmen dieses Leinen nun auch mit nach dort.

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Und man verfeinerte die Qualität des Leinens. So war es nicht verwunderlich, daß die Holländer bald auf die Leinenerzeugnisse der "Gastarbeiter" aufmerksam wurden und ihnen das Leinen in immer größeren Mengen abkauften. So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein reger Handel, der bald manche Familie verantaßte, sich nur noch mit dem Handel von Leinen und anderen Textilien zu beschäftigen. Aber man zog nicht nur mit Leinen und Textilien über Land. Auch brachte man auf dem Rückweg andere Dinge, auch Pflanzen und Sämereien aus Holland mit. Die Gastarbeiter in Holland waren also nicht nur Arbeiter sondern auch Händler. Die Schar der wandernden Kaufleute nahm immer mehr zu. In der Blütezeit des Hausierhandels war der größte Teil der männlichen Bevölkerung im Ausland tätig und brachte dadruch auch einen gewissen Wohlstand in die Heimat. 

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Sie zogen nach Holland, nach Friesland, Belgien, Norddeutschland aber auch nach Mecklenburg, Brandenburg, Pommern, Ost- und Westpreußen oder nach Thüringen. Die wandernden Händler wurden nach dem Ziel ihrer Wanderwege bezeichnet. Hollandgänger nannte man die nach Westen ziehenden Männer. Die nach Osten wandernden Männer bezeichneten sich als Oberreicher.

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Straßen und Wege wie wir sie heute kennen, gab es damals nicht. Man benutzte uralte Wanderwege, die alle Länder durchzogen und die bis heute als Tüóttenwege bekannt sind. (z.B. Der Tüöttenweg von Mettingen bei Osnabrück über Bockraden, Steinbeck, Hopsten, Rheine, Oldenzaal bis nach Amsterdam - auf dem auch die Brenningmeiers zogen).

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Wenn die ersten Männer in den Sommermonaten nach Holland zogen, so zogen die Tüötten des 18. und 19. Jahrhunderts ganzjährig. Bei Wind und Wetter, Regen und Schnee zogen sie mit ihren Packen auf dem Rücken durch die Lande. 30 - 40 kg faßte so ein Rücksack, den die Tüötten in ihrer Geheimsprache Rippert nannten. Durch die Ausweitung des Handels wurde es erforderlich, daß die Töütten in ihren Handelsgebieten Lager, auch Depots genannt, anlegten. So war es möglich die Leinenerzeugnisse mit Planwagen in die jeweilige Gegend zu schaffen. Um dabei die Transportkosten zu verringern, schloß man sich zu Handelsgesellschaften zusammen.

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In der Ferne waren die Kaufleute manchen Gefahren ausgesetzt. Es drohten Krankheiten, Raubüberfälle und Mißgunst der einheimischen Kaufleute. Daneben hatten die Tüötten Zollgrenzen der Fürsten und Herrn zu überwinden. Bald waren die Tüötten im Ausland vor allem durch die Qualität ihrer Waren und durch ihre Ehrlichkeit bekannt. Deshalb waren sie bald nicht nur als ehrliche Händler angesehen, sondern in einer Zeit ohne Zeitungen, Radio oder Fernsehen als ideale Nachrichtenübermittler begehrt.

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Die Gründung der Handelsgesellschaften diente aber auch der wirtschaftlichen Sicherung als im 19.Jahrhundert der Handel mit Leinen durch Einführung der Baumwolle zurückging. Am Ende des 19.Jahrhundert ist nach fast 300 Jahren die Zeit der Tüötten vorbei. Niemand zieht mehr nach Holland zum Grasmähen; Fabriken und Handelsorganisationen übernehmen Textilherstellung und -handel. Das Land ernährt seine Menschen in zunehmender Vielfalt der Möglichkeiten.

 

Aus:“ tho Uphusen“ von Klaus Uphues, 1997

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